Performative Führung
Bundeskunsthalle Bonn, 2014/2016
Aufbau
Über die gesamte Fläche eines Stockwerks sind Absperrbänder in Form eines Labyrinths angeordnet. Die Bänder sind so verteilt, dass die abzulaufende Strecke so lang wie möglich ist. Sie ahmen damit die Anordnung von Personenleitsystemen an Flughäfen nach, wo man oft gezwungen wird, unnötig lange Wege zurückzulegen.
Dem Publikum wird mitgeteilt, dass es an einer "performativen Führung" teilnehmen könne, ohne genauer darauf einzugehen, welcher Art diese ist.
Die Teilnehmer warten vor dem Eingang zu den Ausstellungsräumen, wo von der Installation aus Absperrbändern noch nichts zu sehen ist. Zum Beginn der Performance wird die Gruppe durch einen engen Gang in die Ausstellungsräume geleitet. Die nachströmenden Teilnehmer machen es den bereits herein gekommenen Besuchern schwierig, umzukehren. Damit funktioniert der Aufbau als eine Art von Falle.
Die "Führung" besteht im planmäßigen Ablaufen der Strecke. Dazu wird ein vorbereiteter Text zum Thema Disziplinierung und Selbstzensur vorgetragen.
Das abzulaufende Labyrinth führt durch drei lange Ausstellungs-Säle. Entsprechend ist der Text in drei Abschnitte aufgeteilt, A, B und C. Der Grundriss der Bundeskunsthalle ist quadratisch und weitläufig, es stellt sich bald eine Art von Rhythmus ein. Anstatt des erwarteten vierten Saals und eines weiteren Abschnitts des Vortrags tritt mit dem Ende des dritten überraschenderweise eine Blechbläser-Combo in Aktion und begleitet die Teilnehmer musikalisch in die Freiheit.
Skript des Vortrags
A.
"Hallo und herzlich willkommen bei meiner Führung. Mein Name ist Christian Sievers. Ich bin Künstler und möchte heute mit Ihnen heute über Kontrollsysteme sprechen. Wenn Sie mir bitte folgen möchten.
Dies hier sind Personenleitsysteme. Die sorgen ganz praktisch für Ordnung. Dafür, dass man sich ordentlich anstellt, aber auch, dass alles seinen geregelten Gang geht. Die tun etwas mit der Masse der Körper, die alle irgendwo hin wollen.
Diese modernen Labyrinthe findet man in ihrer schönsten Ausprägung an Flughäfen. Dort sind sie natürlich auch ein Zeichen. Und das sagt: Sie werden hier gegängelt. Und wenn Sie heute fliegen wollen, müssen Sie da durch.
Es heißt, in Flughäfen werde vieles zum ersten Mal eingesetzt und auf Akzeptanz getestet, was später dann in großem Stil im Rest des Landes installiert wird.
Ich finde das plausibel.
Flughäfen sind die am meisten überwachten öffentlichen Orte. Man ist es gewohnt, dort besonderen Sicherheitsmaßnahmen ausgesetzt zu sein, und lässt sich notgedrungen darauf ein. Vieles was sonst völlig unproblematisch wäre, darf man dort nicht. Machen Sie mal einen Witz über Bomben bei der Gepäckkontrolle zum Beispiel. Das geht nicht gut aus.
Oder seien Sie auch nur mal ironisch.
Sie werden wahrscheinlich missverstanden werden. Den Leuten, die die Kontrollen machen, bringt man bei, alles wortwörtlich zu nehmen und Witze misszuverstehen. Also hält man sich zurück. Man verhält sich unauffällig.
Und spätestens seit Snowden wissen wir, die besonderen Regeln des Flughafens gelten jetzt überall. So, wie man sich dort verhält, benimmt man sich jetzt immer. Man macht keine unvorsichtigen Witze mehr.
Diese Überwachung läuft immer mit. Und das liegt daran, dass das Internet alle Bereiche des Alltags durchdrungen hat.
Wenn man es sich genau überlegt, gibt es nur noch wenig, bei dem man sich nicht vom Netz helfen lässt: Nicht nur bei der Kommunikation wird von Netzwerk unterstützt, sondern auch beim Bezahlen, beim Reisen, sich Entspannen, bei der Freizeitunterhaltung, sogar beim Sport.
Dabei entstehen immer Datenspuren. Und alles wird aufgehoben. Es könnte irgendwann ja nützlich sein. Big Data zahlt sich für die Marketingabteilungen genauso aus wie für die Sicherheitsorgane.
Gegenmaßnahmen die man selber treffen kann, gibt es kaum. Im Gegenteil, je mehr man über das Ausmaß weiß, um so mehr Bedenken bekommt man. Das ist durchaus im Sinne der Erfinder. Das Perfide an der Massen-Überwachung ist, dass man unwillkürlich sein Verhalten ändert. Wenn man nicht weiß, ob man unter Beobachtung steht oder nicht, benimmt man sich so, als würde man überwacht. Der Fachausdruck dafür ist „Chilling Effect“.
Ein Artikel darüber neulich in der Zeitung war schön überschrieben: „Sie werden sich nicht wieder erkennen!“[1]
(Übrigens, Sie haben ja vorher zugestimmt, wir zeichnen hier alles auf.)
Man ändert sein Verhalten, mehr noch, eigentlich verändert sich das ganze Wesen. Je tiefer das Bewusstsein des möglicherweise-beobachtet-Werdens verankert ist, desto unwillkürlicher die Selbstzensur. So kann man ein ganzes Leben führen, ohne sich je bewußt zu werden, was man eigentlich will. Die Schere im Kopf ist mächtiger und effektiver als jede (behördliche oder unternehmenspolitische) Zensur. Und billiger noch dazu.
Ich denke, hier liegt der eigentliche Grund für die verschärften Sicherheitsmaßnahmen, am Flughafen wie anderswo: Das Ziel ist Einschüchterung.
Alles nichts Neues, OK. Alles bekannt.
Aber: Das Problem mit der Technologie ist doch, man weiß nie genau, wie weit sie jetzt schon fortgeschritten ist. Wir leben mit der Technik aus Science-Fiction Romanen. Selbst, wenn es etwas noch nicht gibt, die Betonung liegt auf 'noch'.
Ich frage mich, wie kann man es anstellen, nicht den Kopf in den Sand zu stecken? Informiert zu sein und trotzdem nicht eingeschüchtert?"
B.
"Warum mucken eigentlich so wenige auf?
Das Problem heute ist, es herrscht eine generelle, tiefe Unsicherheit. Und da kommt ein bißchen Autorität gut an, und viele sehen kein Problem mit drakonischen Maßnahmen und permanentem Ausnahmezustand. Ist ja alles für die Sicherheit.
Ohne jetzt zu dramatisch werden zu wollen, wir stecken wohl gerade mal wieder mitten in einer Zeitenwende. Von der selben Größenordnung wie die Industrielle Revolution. Die wurde auch von neuen Technologien angetrieben, und ähnlich wie um 1750 ist noch gar nicht abzusehen, wo das alles hinführen wird.
Es gibt scheinbar keine Schranken mehr. Das ist das Wesen der Vernetzung. Alles hängt zusammen.
Ich bin mir immer bewusst, dass meine Daten von heute auf morgen weg sein können. Dasselbe gilt anscheinend für die sogenannte kritische Infrastruktur! Das ist erstaunlich, aber wenn man sich ein bisschen damit beschäftigt, hört man das ja immer wieder. Das alles kann ganz schnell gehackt werden, oder sonstwie fehlfunktionieren, und dann haben wir auf einmal keine Stromversorger und Wasserwerke mehr. Dabei würde ohne diese die öffentliche Ordnung sehr schnell zusammen brechen. Alles erscheint heutzutage fragil.
Im Kommunistischen Manifest heißt es dazu: "Alles Ständische und Stehende verdampft…". In der englischen Übersetzung klingt das noch viel eindrücklicher: „All that is solid melts into air." Nun ist alles was fest und verlässlich war schon lange verdunstet und weggeschmolzen.
Zygmunt Bauman, der Soziologe, hat schon vor 15 Jahren den Begriff von der „liquid modernity“ geprägt, um diesen neuen Zustand des 'alles fließt' zu beschreiben. Es scheint mir, dass genau dieses dem Fließen ausgeliefert sein, der Grund ist für die Sehnsucht nach strengen Regeln, und endlich mal festen Grenzen.
Die Reaktion auf die liquide Moderne ist: ein krampfhaftes Beharren auf dem Status Quo. Ein Verhärten und Verknöchern. Und das soll mit Hilfe der vielen schönen neuen Unterdrückungs- und Kontrolltechnologien zementiert werden.
Wie kann man mit der existentiellen Unsicherheit leben? Gar nicht. Man versucht, nicht daran zu denken.
Oder man spielt sich was vor.
Für die neuen, aktionistischen Massnahmen seit Nine-Eleven wurde der Begriff Sicherheitstheater geprägt. Das sind Sicherheitsmaßnahmen 'nur zur Show'. Die vermitteln das schöne Gefühl, es werde was getan. Als liesse sich was tun! Die Maßnahmen sind de facto völlig unwirksam gegen die wirklich bösen Buben. Die finden immer einen Weg. Die Reisenden, um beim Beispiel Flughafen zu bleiben, haben keine andere Wahl, als mitzuspielen. Es sind eigentlich "Dramen mit Publikumsbeteiligung"[2]
Ich würde da noch weiter spekulieren wollen und sagen, es sind quasi-religiöse Handlungen.[3] Wir sind gar nicht so rational, wie man meinen könnte. Dieser Durchgang, durch den man da gehen muss, das ist eine Pforte. Die Sicherheitskontrolle hat etwas von einer Beichte. Man geht durch die Kontrolle und darf sich von jedem Verdacht reingewaschen fühlen, und endlich mal nicht mehr verdächtig.
Und das rituelle Wegwerfen von Flüssigkeiten und scharfen Gegenständen? Was bedeutet das? Sind das Opfergaben? An wen?
Es gibt noch viele andere symbolische Gesten. Die durchziehen den Alltag. Eins meiner magischen Rituale besteht zum Beispiel darin, dass ich Backups mache. Datensicherung.
Früher hätte ich vielleicht zu einer Heiligen oder Gottheit gebetet; heute fühle ich mich behütet und erlöst und sicher, wenn ich die externe Festplatte anschließe. Je öfter mehrfach redundant, um so erlöster.[4]
Und hier komme ich zurück zum fürchterlichen Schlamassel. Dem Wissen um die Überwachung und der dadurch folgenden unwillkürlichen Schere im Kopf. Vielleicht ist das eine erste Lösung:
Wenn magische Handlungen wie das Sicherheitstheater es schaffen, einem die Angst vor dem Fliegen zu nehmen, dann vielleicht auch die vor dem Zensor oder der eigenen permanenten Datenspur. Dann sollten wir unser Repertoire an passenden magischen Ritualen ausbauen. Im rationalen Bewusstsein, dass uns das gut tut."
"Wissen Sie, es geht ja nicht wirklich um Überwachung. Wir haben viel wichtigere Probleme zu lösen. Der Klimawandel ist im vollen Schwung. Weltweit setzt sich eine immer größere Anzahl von Flüchtlingen in Bewegung, während Europa eine neue unüberwindbare Mauer baut. Der Punkt ist, wir können uns über diese Dinge in einem gekühlten gesellschafts-politischem Klima nicht wirklich produktiv unterhalten. Wir werden unsere Probleme nicht lösen, wenn wir nicht frei über unsere Ideen sprechen können. Wir brauchen das Gegenteil von einem chilling effect, was wir brauchen ist Aufwärmung."
C.
Um noch einmal zusammen zu fassen: Es wird nichts mehr dem Zufall überlassen. Alles wird maximal abgesichert und überwacht und durchkontrolliert.
Damit lügen wir uns selber an. Es ist ja nicht wirklich sicherer geworden. Das würde niemand behaupten. Überhaupt, vollkommene Sicherheit ist eine Illusion. Eine Wahnvorstellung!
Ich bin Künstler und kein Psychologe, aber es scheint es mir als Laie doch nur folgerichtig, dass dieser ganze Druck, den man sich macht, dass das zu psychischen Problemen führt.
Angststörungen sind auf dem Vormarsch. Da wird man das Gefühl einer schrecklichen und unspezifischen Bedrohung nicht mehr los. Das kommt in Attacken. Es gibt Fälle, bei denen Betroffene so gelähmt sind von der Angst vor der nächsten Angstattacke, dass die nicht mehr gesellschaftlich teilhaben können. Die schaffen es nicht, auf die Straße zu gehen.
Diese Leute müssen in die Klinik, und das Schöne ist: Man kann ihnen helfen. Die Therapie besteht in der systematischen Desensibilisierung. Man muss gerade das tun, wovor man sich fürchtet. Am Anfang ist es schon eine Herausforderung, einfach nur Zigaretten holen zu gehen. Man schickt die Leute dann raus mit Beruhigungsmitteln intus und dem Finger auf der Notrufnummer am Handy. Die üben das ganz systematisch. Und Schritt für Schritt wird das dann besser.
Geheilt ist man, wenn man sich traut, mit klarem Kopf und ganz rational in aller Öffentlichkeit etwas völlig Durchgeknalltes zu tun. Das ist die Therapie: Irrational aufzufallen.
Und hier haben wir vielleicht schon wieder eine mögliche Lösung!
Wenn das irrational Auffallen so gut hilft, werden wir möglicherweise noch mehr davon sehen. Viel mehr. Und auch das wird uns gut tun.[5]
Wir reden hier über Kunst. Ich glaube, für viele Künstler gilt genau die gleiche Devise: Du musst das tun, wovor Du Angst hast. So zeigt sich Dir, was wichtig ist.
Die Nummer Sicher funktioniert in der Kunst einfach nicht. Wenn ich vorher wüsste, dass etwas gelingen wird, wäre das kein wirkliches Gelingen. Das wäre unredlich, sonst nichts. Es ist leider, und gleichzeitig glücklicherweise so, dass man jedes mal auf volles Risiko gehen muss.
Hier liegt der grundliegende Unterschied zum angstgetriebenen Sicherheitsdenken. In der Kunst gilt: wenn ich nicht das Wagnis des totalen Scheiterns eingehe, habe ich von vorne herein verloren. Ich muss es eigentlich darauf anlegen, dass alles schief geht.
Das geht dann oft auch schief. Aber manchmal klappt es. Und jedes mal, wenn es dann irgendwie klappt, sieht man: "Ah! es ist also doch möglich". Schlagartig erweitert sich der Aktionsradius. Und es eröffnet sich ein Aktionsraum. Kunst machen ist immer auch eine Befreiung. Eine Emanzipation.
Eine wissenschaftlich unfundierte Spekulation habe ich noch: Ich glaube, die Kunst funktioniert als Verlängerung der Entdeckungsreisen, die man als Kind macht.
Als Kind fängt man mit einem winzig kleinen Radius an, und mit dem Größerwerden erobert man sich immer mehr Freiheiten und neue Räume. Eine ganze Welt.
Und dann, wenn man erwachsen ist, wird das plötzlich weniger, und oft ist es ganz vorbei. Man verlernt das Risiko-Eingehen, so wie man das Staunen verlernen kann. Kunst kann es einem ermöglichen, die Entdeckungsreisen wieder aufzunehmen."
Hier ist die Gruppe am Ende von Abschnitt C angekommen. Hinter der letzten Ecke erscheinen die Musiker und fangen an zu spielen.
Das Publikum entscheidet selbst, wann und wie es zum Ausgang geht. Es gibt die Möglichkeit, eine Abkürzung zu nehmen und direkt unter einer letzten Barriere hindurch zu schlüpfen, oder die übrig gebliebenen Wege feierlich abzuschreiten.
[1] Peter Galison in der FAZ. The original English article.
[2] Der Begriff ist von Bruce Schneier.
[3] Siehe Mark Wallinger, Threshold to the Kingdom
[4] Der Rat aller Systemadministratoren an die Endnutzer: "backup religiously"
[5] Christian Sievers: Dada die Data. off-topic #5 'verlieren', Kunsthochschule für Medien Köln, 2014
Lageplan: Ein enger Gang im Eingangsbereich macht es der in den Raum strömenden Gruppe schwierig, umzukehren. Man sitzt in der Falle. Die Absperrbänder sind so angeordnet, dass die Länge des Labyrinths so groß wie möglich ist. Es ergibt sich eine abzulaufende Strecke von ca. 800m. Der vorgetragene Text ist in drei Abschnitte A, B und C aufgeteilt; entsprechend gibt es drei lange Säle. Anstatt des erwarteten vierten Saals tritt mit dem Ende des Vortrags nach Abschnitt C überraschenderweise eine Blechbläser-Gruppe in Aktion und begleitet die Teilnehmer musikalisch in die Freiheit.